SONJA KOLBERG
POESIE-HERBERGE
Als ich etwa sechs Jahre alt war, verbrachten wir mit unserem Kindermädchen ein paar Tage in ihrem Ferienhaus. Im Flur dieses Hauses hatte es einen grossen Holzkasten. Dort ereignete sich etwas Wunderbares. Ich liess mich von einem der Kinder im Schrank einsperren, während mein Bruder, noch zu klein für ein solches Abenteuer, vor der
Schranktüre warten musste. Ich hatte ihm erzählt, dass sich im Schrank die Tür zu einer Traumwelt verberge. Er machte
sich fast in die Hose vor über-
grosser Aufregung, als ich – endlich – dem Kasten entstieg und ihm erzählte, was mir hinter dem Schrank, in einer fernen, farbigen, wundersamen Welt, alles zugestossen war. Ich glaube, dass ich hier die Kraft der Geschichten entdeckt habe – Geschichten sind Phantasien, die geteilt werden wollen.
Seither habe ich Hunderte von Geschichten gelesen … In den Erfahrungen literarischer Figuren habe ich mich wiedererkannt,
sie haben mich begleitet und
getröstet. Als ich älter wurde, habe ich gemerkt, dass Literatur viel mehr ist nur ein
Spiegel meiner eigenen
Gefühle. Wenn mir Menschen über ihre Erfahrungen mit Büchern erzählen, lassen sie mich an ihren eigenen Traumwelten, an ihrer Lebenserfahrung und ihrer Weisheit teilhaben. Das berührt mich noch mehr als die Worte auf dem Papier.
Darum ist für mich Shared Reading, «gemeinsam lesen», noch schöner als lesen.
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